Was mit kleinen Demonstrationen in Sao Paulo und Rio de Janeiro begann, wuchs sich binnen zwei Wochen zum größten Protest in Brasilien seit zwei Jahrzehnten aus. Die Demonstrationen explodierten an Umfang und zeigten die wachsende Unzufriedenheit großer Teile der brasilianischen Gesellschaft, besonders der Jugend, mit der herrschenden Politik.
Auslöser der Bewegung war die Fahrpreiserhöhung im öffentlichen Nahverkehr von Sao Paulo, Rio de Janeiro u.a Städten. Zwar betrug diese nur 20 Centavos (etwa 7 Cent), dennoch zeigt ein Vergleich mit anderen Großstädten der Welt, dass die brasilianischen Fahrpreise im Verhältnis zu den Durchschnittslöhnen zu den höchsten gehören. Hinzu kommt, dass das Verkehrswesen sehr schlecht in Ausstattung und Betrieb ist und die Städte gewaltig belastet.
Es zeigte sich aber bald, dass das Anwachsen der Demonstrationen nicht nur den 20 Centavos geschuldet war. Diese scheinbar unbedeutende Summe war vielmehr der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte und sich im Zorn einer Protestbewegung entlud, die nun die Straßen bevölkert. Viele andere Aspekte wie Korruption, Inflation und die riesige Geldverschwendung für die Fußballweltmeisterschaft kamen hinzu und heizten die Stimmung gegen die Regierung an, die zudem verschiedene öffentlichen Ausgaben kürzt.
Beginn der Bewegung und deren Unterdrückung
Die Demonstration in Sao Paulo wurde von einer Gruppe namens „Movimento Passe Live“ (Bewegung für einen Freipass) organisiert. Die Gruppe ist anarchistisch orientiert und hat eine offene Bündnisstruktur. Ihre Hauptforderung heißt „Kostenloser öffentlicher Nahverkehr“. Sie haben schon seit 2009 Demos gegen Fahrpreiserhöhungen organisiert, aber selbst sie waren überrascht von der Dynamik dieser Demonstrationswelle im Juni 2013.
Mit ein paar tausend vornehmlich jugendlichen TeilnehmerInnen fing es an. Die Zusammensetzung beschränkte sich zunächst v.a. auf AnhängerInnen der anarchistischen sowie der linken Gruppen in Brasilien wie PSOL (Partei für Sozialismus und Freiheit), PSTU (Vereinigte Sozialistische Arbeiterpartei) oder LER-QI (Liga Revolutionäre Strategie – 4. Internationale). Die Aufmärsche waren ziemlich militant, blockierten oder besetzten Straßen. Dagegen ging die Polizei mit äußerster Härte vor, die den Protest mit ‚Bomben mit moralischer Wirkung’, wie es in Brasilien genannt wird, d. h. mit laut detonierenden Sprengkörpern, die Einschüchterung und Verwirrung stiften sollen, mit Tränengas und Gummigeschossen bekämpfte.
Die erste Protestwoche verlief bei steigender DemonstrantInnenzahl (von 3.000 auf 15.000) und Zusammenstößen mit der Militärpolizei, die neben der regulären Polizei eine Sondereinheit bildet. Sie wird v.a. zur offenen Repression eingesetzt. Die Presse ihrerseits hetzte gegen die Protestaktionen. Die Polizei infiltrierte die Bewegung, verübte Akte von Vandalismus gegen Banken und Läden, zündete Busse an und demolierte Metro-Stationen. Ein nicht geringer Teil der anarchistisch gesinnten Jugend zollte den Provokationen aus Naivität Beifall, weil sie über die Polizeiwillkür empört waren.
Am Donnerstag, dem 13.Juni, benutzte Geraldo Alckmin, der Gouverneur der Provinz Sao Paulo und Mitglied der rechten Partei PSDB, die Bilder von angeblicher Gewalt und Zerstörung durch die DemonstrantInnen in der Presse und verkündete, er würde diesen ‚Vandalismus’ nicht länger dulden. Der Bürgermeister von Sao Paulo Fernando Haddad von der brasilianischen Regierungspartei PT (Arbeiterpartei), die für die Fahrpreiserhöhungen verantwortlich ist, deckte den Einsatz der Polizei voll.
Die Demo am Donnerstag, bis dahin die größte, versammelte 15.000 im Zentrum von Sao Paulo und 7.000 in Rio de Janeiro. Beide waren von großer Begeisterung getragen, weil sich nun eine echte Bewegung abzeichnete. Leute winkten aus den Fenstern. Die idyllische Atmosphäre trog jedoch. Kurz nachdem der Zug das Stadtzentrum verließ, wurde er brutal von drei Seiten durch die Polizei attackiert. Sie setzte ohne Vorwarnung Tränengas und Gummigeschosse ein. Auch jene, die bereits die Straße in Richtung Roosevelt-Platz verlassen hatten, wurden weiter durch die Polizei verfolgt, geprügelt und beschossen. Eine regelrechte Hetzjagd setzte gegen DemonstrantInnen und sogar unbeteiligte PassantInnen ein. Alle AktivistInnen, derer der Repressionsapparat habhaft werden konnte, wurden festgenommen.
Die Polizei verwundete über 100 Menschen und verhaftete mehr als 200, die wegen ‚Bandenbildung’ angeklagt wurden und dabei keinerlei Rechte auf anwaltlichen Beistand bekamen. Sie mussten eine Kaution von fast 7.000 Euro für ihre Freilassung hinterlegen. Auch mehrere Presseberichterstatter waren unter den Verletzten.
Massenbewegung
Es drängen sich Parallelen zu den Erhebungen der letzten beiden Jahre in Nordafrika und aktuell in der Türkei auf. In Brasilien zeigt sich ein Gemisch aus einem tiefen Unbehagen über die Regierungspolitik, unpopuläre staatliche Maßnahmen und die brutale Polizeirepression gegen die ersten Proteste. Die Unterdrückung der Demonstration am 13.Juni goss Öl ins Feuer der aufflammenden Revolte. Plötzlich konnte eine kleine anarchistisch beeinflusste Gruppe den Unmut von Tausenden im Land mit ihren Demonstrationen kanalisieren. Als Resultat kamen am 17. Juni die größten Demonstrationen in Brasilien seit 1992 zustande, als damals eine Kampagne zur Amtsenthebung gegen den damaligen Präsidenten Fernando Collor entfacht wurde.
Mehr als 230.000 Menschen demonstrierten am Montag in 12 großen Städten Brasiliens. In Sao Paulo gingen 65.000, in Rio de Janeiro sogar 100.000 Menschen auf die Straße. Die Hauptforderung der Bewegung ist zwar noch die Rücknahme der Fahrpreiserhöhung, aber daneben gibt es eine Reihe von gesellschaftlichen Forderungen, die bei vielen in einen etwas diffusen Ruf nach einem ‚besseren Brasilien’ münden.
Die Bewegung hat die meisten Menschen in Brasilien überrascht. Wie alle Kräfte, die zu Massenbewegungen geworden sind, haben sie viel verändert. Der Führung der Bewegung für kostenlosen Nahverkehr, MPL, ist die Kontrolle bereits entglitten. Die Entwicklung nimmt aber auch eine besorgniserregende Richtung an.
Bei der Massendemonstration gingen Teile dazu über, die offene Teilnahme von (linken) Parteien und Gruppen zu unterdrücken. Diese Idee stammt ursprünglich von den AnarchistInnen, die starken Zulauf während der beiden letzten Wochen erhielten. Einer der verbreitetsten Slogans am Montag in Sao Paulo hieß ‚Keine Parteien’. Organisationen wurden aggressiv daran gehindert, Fahnen und Transparente mitzuführen und deswegen sogar tätlich angegriffen.
Schon bei der Nachfolgedemo am Dienstag waren unter den 10.000 so gut wie keine Partei- und Gruppenfahnen zu sehen. An ihre Stelle traten nun brasilianische Nationalfahnen. Was also mit erkennbar linken Demonstrationen begann, könnte durchaus in eine nationalistische Richtung abgleiten. Am 19. Juni schwollen die Demonstrationen zahlenmäßig wieder gewaltig an.
Eine Orientierung für die Bewegung
Die Idee der ‚nicht parteigebundenen Repräsentation’ hat sich in der ganzen Bewegung verbreitet. Nun werden ‚Anti-Parteien-Kundgebungen’ propagiert. Obwohl das Gefühl, von keiner Partei wirklich vertreten zu werden, bei großen Teilen der Jugend durchaus nachvollziehbar ist, muss jedoch die reaktionäre anarchistische Idee des Partei- und Gruppenauftrittsverbots innerhalb der Bewegung zurückgewiesen werden. Die Freiheit der politischen Organisierung und die offene Teilnahme am Geschehen ist eine der demokratischen Grundrechte der Arbeiterklasse. Dieses Recht in einer Bewegung zu unterdrücken, ist ultrareaktionär.
Die Rücknahme der Fahrpreissteigerung ist in den kommenden Tagen und Wochen denkbar, wurde von den Regierenden jedenfalls schon versprochen. Welchen politischen Ausdruck sucht sich die heterogene Massenbewegung darüber hinaus? Sie vertritt eine starke Unzufriedenheit mit der politischen Repräsentanz, insbesondere mit der PT, die ja selbst dereinst ein Ergebnis von Massenprotest und der Arbeiterbewegung war. Sie ist jetzt erstmals seit der Regierungsübernahme 2002 Zielscheibe einer Protestbewegung Das eröffnet die große Möglichkeit des Aufbaus einer politischen Formation links von der PT. Wenn aber die Linke keine Antwort darauf findet, wenn ihre organisierten Kräfte daran gehindert werden, offen am Protest teilzunehmen, so ist es nicht unmöglich, dass die politische Rechte Kapital daraus schlagen kann. Diese Gefahr besteht unmittelbarer, da die Demonstrationen auch nationalistischen Charakter anzunehmen drohen.
Absolut notwendig ist augenblicklich eine offene Konferenz, auf der die wichtigen Fragen der Bewegung diskutiert und beschlossen werden. Die Konferenz muss die Idee des Teilnahmeverbots von Parteien und Organisationen eindeutig verwerfen und das freie Recht zur Beteiligung an der Bewegung festlegen und sie muss Beschlüsse fassen zu den Hauptforderungen der Bewegung.
Die Bewegung muss sich mit den ArbeiterInnen zusammenschließen, sie für gemeinsame Forderungen und einen Generalstreik des Verkehrswesens gewinnen. Das würde nicht unbedingt eine Lahmlegung des öffentlichen Nahverkehrs bedeuten, der ja auch die Arbeiterklasse träfe, sondern v.a. die Fahrgastbeförderung ohne Kontrolle.
Mit der Erreichung des ursprünglichen Ziels des Fahrpreisstopps ist das Problem aber noch nicht gelöst. Der Bürgermeister von Sao Paulo hat bereits gesagt, wenn die Fahrpreise nicht erhöht würden, müssten die Subventionen fallen. D.h. die Profite der Privatfirmen müssen garantiert werden und die Arbeiterklasse müsste dafür zahlen, entweder durch Fahrpreissteigerung oder durch Besteuerung. Deshalb ist die vollständige Verstaatlichung jeglichen öffentlichen Verkehrs unter Kontrolle der Arbeiterklasse und der NutzerInnen erforderlich. Nur so kann der öffentliche Verkehr demokratisch überwacht und gewährleistet werden.
Um das zu erreichen, dürfen diese Maßnahmen nicht der PT o.a. etablierten Parteien überlassen werden. Die Bewegung kann und sollte die Rücknahme der Preiserhöhung durch Druck auf der Straße erlangen. Deshalb muss die Bewegung weiter ausgebaut werden für einen politischen Horizont, der über dieses Nahziel hinausweist.
Deshalb muss sich die Bewegung – statt alle Formen von politischer Organisation abzulehnen – im Gegenteil den Aufbau einer neuen Partei als Ziel stecken: eine wirkliche Partei der ArbeiterInnen und Unterdrückten – eine revolutionäre Partei!
– Für die Verstaatlichung des öffentlichen Verkehrs unter Kontrolle der ArbeiterInnen und NutzerInnen mit massiv ermäßigten Fahrpreisen, finanziert durch die progressive Besteuerung von Reichtum und Kapital!
– Für einen Generalstreik im öffentlichen Verkehrswesen, um diese Forderung und zugleich eine Lohnerhöhung für die Beschäftigten durchzusetzen!
– Für die sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen und die Niederschlagung aller Anklagen gegen sie! Gegen die Repression der Bewegung!
– Für einen landesweiten Aktionstag, an dem die verschiedenen Kämpfe in Brasilien unter einem Banner und einer Bewegung vereint werden!
– Für die Organisations- und Redefreiheit innerhalb der Bewegung. Gegen alle Unterdrückung von linken Parteien und Organisationen!
– Für den Aufbau einer neuen revolutionären Partei, landesweit und international!