Stefan Hirsch (AIK): Krise vorbei? Eher nicht. Anmerkungen zum scheinbaren Ende der Eurokrise

Rückgang der Panik

Der Sommer 2012 brachte entscheidende Entwicklungen der Eurokrise. Nach einer
Eskalation der Finanzmarktpanik Ende Juli betritt der Chef der EZB, Mario
Draghi, die Bühne und spricht die Worte auf die die Finanzmärkte gewartet
hatten: „Was auch immer notwendig ist“ – es können Staatsanleihen der
Krisenstaaten ohne jedes Limit gekauft werden, um den Zusammenhalt der
Eurozone zu gewährleisten. Eine solche Ansage konnte nur mit Zustimmung der
deutschen Kanzlerin erfolgen. Diese schwieg dann auch wohlwollend, als die
ultraliberalen Spinner der Deutschen Bundesbank von einer pragmatischen
Mehrheit überstimmt wurden, völlig isoliert und auch von ihren üblichen
niederländischen und finnischen Verbündeten verlassen.

„Was auch immer notwendig ist“ hat in jedem Fall für eine erste
wirkliche Beruhigung der Finanzmärkte gereicht, das erste Mal seit dem
Beginn der Eurokrise. Die Zinsen für 10jährige italienische Anleihen sind
deutlich zurückgekommen (auf gut vier Prozent Ende Jänner 2013), spanische
Anleihen rentieren etwas höher, haben sich aber auch aus dem Panik
Territorium entfernt. Und griechische Banken verzeichnen im vierten Quartal
2012 wieder deutliche Mittelzuflüsse.

Draghi hat damit die Kraft einer aktivistischen Notenbank gezeigt, obwohl
tatsächlich bis dato keine Intervention auf den Märkten erfolgt ist. Die
glaubhaft vermittelte Entschlossenheit war ausreichend. Einer eskalierenden
Marktpanik kann jetzt mit den unbegrenzten Mitteln der Notenbank
entgegengetreten werden (die EZB kann ohne Ende Geld drucken), das reicht um
eine Panik zu kontrollieren und die Risikoaufschläge der Krisenstaaten unter
Kontrolle zu halten. Das entspricht fast dem Erfolg der amerikanischen
Federal Reserve, deren Gelddruckaktionen die Weltwirtschaft vor dem totalen
Absturz bewahren.

Ungelöste Probleme

Wäre die Finanzmarktpanik das entscheidende Problem der Eurozone, dann wäre
in ein paar weiteren Monaten alles gelöst. Ist sie aber nicht. Die
entscheidenden Probleme sind eine allgemeine Nachfrageschwäche, sowie die
strukturellen Ungleichgewichte innerhalb der Eurozone, weil die
südeuropäische Peripherie inklusive Frankreichs gegenüber dem deutschen
Zentrum nicht konkurrenzfähig genug ist. Und während die Finanzmarktpanik
zurückgeht, schreitet die Wirtschaftskrise voran: In Italien verschärft
sich die Situation, in Spanien verharrt die Arbeitslosigkeit auf dem Niveau
der 1930er Jahre. Frankreich kann eine Finanzmarktpanik vermeiden (es war
immer klar, dass die EZB zur Rettung Frankreichs intervenieren muss – ohne
Frankreich kein Euro), dennoch wird seine industrielle Basis von fehlender
Konkurrenzfähigkeit zersetzt, dennoch steht die Konjunktur gewaltig unter
Druck. Nachfrageschwäche und fehlende Konkurrenzfähigkeit ergänzen sich
dabei in der gesamten Peripherie.

Von offizieller Seite wird immer wieder auf eine Verbesserung der
Ungleichgewichte des Außenhandels hingewiesen und tatsächlich sind in den
wichtigsten Krisenstaaten (etwa in Griechenland, Spanien, Italien) die
Defizite der Außenwirtschaft deutlich zurückgekommen – weil die Löhne
gekürzt werden und die Konkurrenzfähigkeit tatsächlich steigt, aber vor
allem vor dem Hintergrund eines zusammenbrechenden Binnenkonsums. Wenn die
Umsätze im italienischen Weihnachtsgeschäft um bis zu einem Drittel fallen,
dann kostet das eine Menge Arbeitsplätze, aber natürlich sinken auch die
Importe. Es werden weniger italienische Autos gekauft, weniger an der Küste
Urlaub gemacht – aber natürlich auch weniger koreanische Fernsehapparate
angeschafft.

Zwischen der katastrophalen wirtschaftlichen Situation und der
Krisenbekämpfung der EU gibt es natürlich einen Zusammenhang: Alle, und
besonders die Länder der Peripherie, müssen sich
„Strukturanpassungsprogrammen“ unterwerfen: Staatliche Sparmaßnahmen,
die den Binnenkonsum abstechen, die Löhne senken, die Konkurrenzfähigkeit
stärken… und dann neue staatliche Sparprogramme, um einem Heer
zusätzlicher Arbeitsloser die Unterstützung zu entziehen.

Das hat eine Reihe von Vorteilen. Einmal passt diese Politik ausgezeichnet zu
den neoliberalen Politikvorgaben der letzten Jahrzehnte. Und damit gefällt
sie der europäischen Presse: Mario Monti, in der Pose des Retters, der
seinem Land die notwendigen Opfer abverlangt. Welche Redaktion kann das ohne
feuchte Augen verarbeiten? Außerdem: Auf der Ebene der harten
Volkswirtschaftslehre bringen ein paar Jahre der südeuropäischen Depression
auch tatsächlich eine harte Anpassung der unterschiedlichen
Konkurrenzfähigkeiten innerhalb der Eurozone.

Diese Politikvorgaben haben auch eine Reihe von Nachteilen: Die nach 2008
immer latente Wirtschaftskrise eskaliert durch wegbrechende Nachfrage zu
einer Depression. In Südeuropa gibt es mittlerweile eine verlorene
Generation, die bei einer Jugendarbeitslosigkeit von 50 Prozent (in Spanien)
keine Perspektive hat, vielleicht zur Auswanderung gezwungen wird. Die
fortschreitende Depression macht die Bedienung der Schulden immer
schwieriger. Und, vielleicht am gravierendsten: die langfristige Perspektive
ist unklar. Eine Rezession, die durch mangelnde Konkurrenzfähigkeit
verschärft wird, kann durch ein Wiedergewinnen dieser Konkurrenzfähigkeit
und ein Ansteigen der Exporte beendet werden. Aber Exporte brauchen nicht nur
Konkurrenzfähigkeit, sondern auch Nachfrage. Woher soll die Nachfrage für
die südeuropäischen Exporte kommen? Die Eurozone befindet sich auf einem
gemeinsamen Sparkurs, Deutschland plant schon wieder Nulldefizite. Selbst der
IWF sieht die gesamte Eurozone 2013 weiter in der Rezession, und wir würden
vermuten, dass die Prognosen weiter nach Unten revidiert werden. Wir halten
es für ausgeschlossen, dass die Eurozone als Ganzes zum
„Exportweltmeister“ werden kann. Eine für das Überwinden der Krise
ausreichende zusätzliche Nachfrage wird nur zu einem Teil von außerhalb der
Eurozone kommen. Wenn wir uns die Hoffnungen der Budgetkonsolidierer
betrachten, dann glauben auch diese nur teilweise an eine Rettung durch den
Export. Hauptsächlich soll ein „stabilitätsorientierter Sparkurs“, per
Wiederbelebung des „Vertrauens“, einen Boom privater Investitionen
auslösen. Aber diese Theorien waren von Anfang an unglaubwürdig und haben
sich mittlerweile als Halluzinationen herausgestellt. Ohne Nachfrage gibt es
auch keine privaten Investitionen – Vertrauen hin oder her.

Unabhängig von allen politischen Erwägungen, nach denen die Unterschichten
nicht für diese Krise bezahlen sollen: Die neoliberalen
„Strukturanpassungen“ und Notenbankinterventionen bekämpfen einen Teil
der Krise (Unterschiede der Konkurrenzfähigkeit und Finanzmarktpanik),
verschärfen aber einen anderen (Nachfrageschwäche und Depression). In der
Folge: ohne einen grundlegenden Politikwandel ist ein Verharren der Eurozone
in der Depression praktisch unvermeidlich.

Depression: Ende des Euro?

Folgt aus einen langen Depression automatisch ein Zerfall der Eurozone? Nein.
Zerfall oder Fortbestand der Eurozone sind im Wesentlichen eine politische
Frage. Das Beispiel Griechenlands, sowie die Bereitschaft zur Intervention
der EZB zeigen, dass das deutsche Zentrum Europas im Augenblick entschlossen
ist den Euro zu halten. Denn mittlerweile hätte es einen ganzen Haufen von
Möglichkeiten gegeben sich der Währungszone zu entledigen. Ein bisschen
mehr Intransigenz an der richtigen Stelle und die unkontrollierte
Finanzmarktpanik hätte alles weggeräumt. In den entscheidenden Momenten ist
aber immer die deutsche Zustimmung zu den Rettungsmaßnahmen erfolgt. Und
angesichts des Umfangs der bisher geflossenen öffentlichen Gelder wird ein
Gesinnungswandel immer teurer. Heißt: Beim nächsten Panikanfall wird die
EZB aller Wahrscheinlichkeit nach tatsächlich intervenieren, Griechenland
wird irgendwann einen weiteren Schuldenschnitt bekommen… So lange die
Depression andauert, sind die Mittel des deutschen Staates de facto
unerschöpflich, denn irgendwo muss das viele Geld ja hin, für das es keine
investive oder konsumptive Verwendung gibt. Und weil Deutschland die
sicherste Adresse ist, kann es auch immer Geld borgen. Solange die Bundesbank
nicht zu viel Theater über Inflationsrisiken macht(oder überstimmt werden
darf), kann auch die EZB ewig Geld drucken.

Euro ja oder nein wird daher nicht an den Finanzmärkten entschieden, sondern
in Rom, Madrid, oder vielleicht in Paris. Die Frage ist wie lange die
Peripherie politisch dazu in der Lage ist den jetzigen Kurs mitzutragen.
Entgegen seiner Pose hat Monti Italien nicht gerettet (das war die EZB),
sondern in eine katastrophale Konjunkturkrise geführt. Wenn, so wie in
Griechenland, die Unterschichten allein gegen die Austerität stehen, und die
Oligarchie mit Zähnen und Klauen an Europa festhält, dann kann auch eine
längere Periode einer wirtschaftlichen Katastrophe ohne institutionellen
Bruch durchgetaucht werden. Aber Griechenland zeigt auch: irgendwann dauert
die Katastrophe zu lang, das politische System beginnt zu erodieren. Und für
Italien (und mit Abstrichen Spanien) gilt: Ein echtes (industrielles)
Bürgertum, mit Interessen im Binnenmarkt – wie lange kann dieses einen
Kniefall vor dem Spardogma und den Interessen der deutschen Exportlobby
tolerieren? Denn die deutsche Exportlobby ist tatsächlich der einzige Teil
der europäischen Gesellschaft, den die Krise relativ kalt lassen kann,
solange der Euro nicht zerfällt: Was sie an Absatz in Südeuropa verliert,
kann sie durch niedrige Zinsen und schwache Währung in anderen Markten
kompensieren, wenigstens teilweise.

In der gesamten südeuropäischen Peripherie ist eine Erosion des politischen
Systems zu bemerken. Zumindest in Italien auch zunehmende Opposition
innerhalb der Bourgeoisie – wie sonst lässt sich der Schwenk Silvio
Berlusconis interpretieren, der die Austerität attackiert und Monti seinen
Kniefall vor der EU-Kommission und Merkel vorwirft? Natürlich ist Berlusconi
nicht vollständig glaubwürdig – an der Regierung hatte der Mann
ausreichend Zeit einen anderen Kurs der Krisenbekämpfung zu fordern –
falsch wird es dadurch aber nicht. Natürlich ist das ein Wahlkampfmanöver
– aber es ist ein Wahlkampfmanöver das in der Lage ist einen wesentlichen
Teil des Bürgertums einzubinden.

Für die nähere Zukunft bleiben einige Möglichkeiten: Einmal eine schnelle
Wunderheilung der Eurozone. Wir können uns das nicht vorstellen, aber wir
können uns irren. Zum Zweiten eine völlige Kapitulation der Unterschichten
und die Selbstaufgabe des Bürgertums, in einer Depression die weitere Jahre
dauern wird. Wir wollen das nicht hoffen, aber so etwas ist möglich. Zum
Dritten, und das ist die wahrscheinlichste Variante, gibt es ein politisches
Erdbeben, weil die Peripherie nicht mehr bereit ist den Katastrophen-Kurs
mitzutragen. Und dann ist alles möglich, bis zu einem völligen Zerfall des
Nachkriegssystem und der EU-Integration.