Wilhelm Langthaler: 2. Stuttgarter Palästinakonferenz gibt Startschuss für deutsche Bewegung für einen gemeinsamen demokratischen Staat in Palästina

„Deutsche Staatsraison gegen Demokratie“

Mehr als 300 Menschen fanden sich vom 10.-12. Mai im süddeutschen

Stuttgart zu einer Konferenz ein, die im Untertitel eine sehr

ambitionierte Zielsetzung proklamierte: „Für einen säkularen,

demokratischen Staat für alle seine Bürger“. In ihrer Eröffnungsrede

brachte die streitbare Tochter des verstorbenen Vorsitzenden des

Zentralrats der Juden, Evelyn Hecht-Galinski, die moralische Empörung

auf den Punkt, die eine so außergewöhnlich große Zahl an Menschen zu

mobilisieren vermochte: es muss endlich anerkannt werden, dass auch die

Palästinenser Opfer der deutschen Geschichte sind!

 

Entgegen der praktisch zu 100% gleichgeschalteten veröffentlichten

Meinung, will die Mehrheit der Deutschen sich nicht des Missbrauchs des

Holocaust schuldig machen, der in ihrem Namen betrieben wird. Kanzlerin

Merkel hat die unverbrüchliche Unterstützung Israels durch die BRD zur

Staatsraison erhoben – ohne Rücksicht auf Gesetz, Moral und Demokratie,

denn etwas anderes kann dieser amtliche Verweis nicht bedeuten, wie Ian

Portman vom organisierenden Stuttgarter Palästinakomitee (Pako)

ausführte. Würde man sich im Gegensatz dazu auf die so viel beschworenen

antifaschistischen Werte, auf die in den universalen Menschenrechten

kondensierten Lehren aus den Verbrechen der Nazis beziehen, müsste man

den zionistischen Kolonialismus bekämpfen, der den Palästinensern diese

Rechte systematisch verweigert. Als Ilan Pappe, der bekannte israelische

Historiker, schließlich ausrief: „Wiedergutmachung heißt heute den

Palästinensern helfen!“, wollte der Applaus nicht enden. Von einem Juden

wurde das gesagt, was die deutsche Mehrheit denkt, was aber der

Staatsraison wegen nicht ausgesprochen werden darf.

 

Das erklärt warum eine oppositionelle Veranstaltung (unter weitgehender

Abwesenheit der Medien) mehr Menschen anzuziehen vermag, als Volontäre

der diversen deutschen Regimekräfte zuwege bringen würden (selbst mit

der geballten Macht ihrer Medien). Daran ist der große Erfolg der 2.

Stuttgarter Konferenz zu bemessen.

 

Joseph Massad, ein US-Professor mit palästinensischen Wurzeln, ging in

seiner viel beachteten Rede noch weiter und schockierte das Publikum.

(Al Jazeera, für dessen Website Massad regelmäßig schreibt, nahm die

Abschrift unter Druck vom Netz, um ihn später aufgrund der Proteste

wieder online zu stellen – samt Entschuldigung.) 1 Für ihn ist der

Zionismus ein Ausdruck weißen Rassismus und durch die systematische

Kooperation mit dem Antisemitismus selbst hochgradig antisemitisch.

Massad untermauert das mit zahlreichen historischen Belegen, unter

anderen ein erhellendes Detail: Der Holocaust konnte als Legitimation

für Israel erst wirksam werden, nachdem die amerikanische

Kulturindustrie die Opfer von dunklen Ostjuden zu weißen

Mittelstandseuropäern erhoben hatte.

 

Denn die Auslöschung der Anderen, der Eingeborenen, seien es nun

Indianer, Aborigines, Ostjuden oder Palästinenser, reicht zu nicht mehr

als einer bedauernden Randnotiz am Weg des Fortschritts, die Vernichtung

von weißen Europäern aber ist Inbegriff des Bösen, das mit nichts

verglichen werden darf. Schafft man es sich als Abwehrkämpfer gegen

dieses überhistorisch absolut Negative darzustellen, dann ist jedes

Mittel recht.

 

Zwei Staaten als Behübschung des Zionismus

 

Mittlerweise kann niemand mehr leugnen, dass Israel keinen

palästinensischen Staat, der diesen Namen wert wäre, zulassen will und

niemals wollte. Der Hinweis auf die systematisch fortgesetzte

zionistische Landnahme reicht dazu aus. (Auf der Konferenz besorgte das

in eindrucksvoller Weise die junge Rechtsanwältin Haneen Naamnih aus

Jerusalem am Beispiel der Beduinen des Naqab/Negev.) 2Das einzige, was

Israel will, sind Bantustans, Eingeborenen-Reservate, die möglichst den

Namen Palästinenser-Staat tragen sollen. Damit kann eine Scheinparität

hergestellt werden, die die fortgesetzte zionistische Herrschaft zu

verschleiern sucht – ganz nach dem Vorbild der südafrikanischen Apartheid.

 

Genau dieses „Paradigma der Parität“ attackierte Ilan Pappe, denn es

verstellt die Sicht auf die strukturelle Ungleichheit, auf die Tatsache

des Gegensatzes von Kolonisten und Kolonisierten, von Unterdrückern und

Unterdrückten. Pappe wies darauf hin, dass die Zweistaatenlösung eine

rein zionistische Erfindung sei, um das koloniale Prinzip des 19.

Jahrhunderts im 21. Jahrhundert an eine Welt zu verkaufen, die nach

Demokratie verlangt und im 20. Jahrhundert bittere Erfahrungen mit dem

Nationalismus gemacht hat. Er rief dazu auf, diese Ungleichheit in der

Realität auch in der Sprache wiederzugeben.

 

Einig war man sich, dass einzig die Palästinenser über ihr Schicksal zu

entscheiden haben. Doch dieses Argument kann nicht gegen den

demokratischen Staat in Stellung gebracht werden, wie das oft versucht

wird. Denn dieser garantiert alle elementaren Menschenrechte

einschließlich demokratischer Selbstbestimmung und Rückkehr. Es ist die

einzige Lösung, die mit dem Kolonialismus aufräumt. Zwei Staaten indes

zwängten den Palästinensern die Anerkennung der zionistischen Landnahme

und Apartheid, sowie den Verzicht auf das Recht auf Rückkehr auf.

 

So sehr die Zweistaatenlösung an öffentlicher Legitimität verliert und

sich ein gemeinsamer demokratischer Staat aufdrängt sowie zunehmend und

allenthalben Anhänger findet, so darf nicht übersehen werden, dass der

globale Herrschaftsapparat geführt von Washington weiterhin geschlossen

hinter dieser Fiktion und damit hinter Israel steht. Oftmals wird der

Vergleich mit der südafrikanischen Apartheid verwendet, die durch den

Boykott gefallen ist. So richtig das ist und so sehr die

Solidaritätsbewegung als Vorbild dienen soll, so wenig darf darauf

vergessen werden, dass es ein äußeres Ereignis gab, dass es den USA

erlaubte, die weißen Rassisten als Verbündete fallen zu lassen, nämlich

der Zerfall der Sowjetunion. Pappe meinte, dass man die zionistische

Apartheid wohl ohne ein solch großes historisches Ereignis auch nicht

los werden würde – doch welches das sein werde, müsse man der

Spontaneität der Geschichte überlassen.

 

Kräfteverhältnisse

 

Bei den Debatten schwingt das oft zu vernehmende Argument mit, nach dem

ein gemeinsamer demokratischer Staat zwar vernünftig sein mag, aber

nicht realistisch wäre. Die unmittelbare und plausible Antwort, dass

zwei Staaten sich als unrealistisch erwiesen haben, lässt indes wenig

Hoffnung aufkommen.

 

Yoav Bar, einer der Initiatoren der Haifa-Konferenzen für einen

gemeinsamen demokratischen Staat und global einer der zentralen

Koordinatoren der Bewegung, deutete auf die Veränderung der globalen

Kräfteverhältnisse. Die USA haben wichtige Kriege verloren und die

globale Peripherie, insbesondere Asien, hat stark an Bedeutung gewonnen.

Nicht zuletzt trägt die kapitalistische Krise zur Schwächung des

westlichen Zentrums, der Hauptstütze Israels, bei.

 

In praktischen allen Teilen der Welt von Lateinamerika, über Afrika bis

Asien weichte die USA nach dem Niedergang der UdSSR ihre Diktaturen auf

und ließ mehr Demokratie zu, nicht immer zu ihrem Nachteil. Eine

hartnäckige Ausnahme zu diesem Trend gab es allerdings: den Nahen Osten.

Dort bestärkte man die härtesten Tyrannen – zum Schutze Israels und des

Erdöls. Doch die Region kann dauerhaft von den Veränderungen nicht

abgeschottet werden. Die Forderungen nach Demokratie und Menschenrechten

stehen nach Bar im Zentrum der arabischen Bewegungen oder – wie es Pappe

ausdrückte –, sie entsprächen dem globalen Zeitgeist. 3 Das erhöht den

Druck auf Israel und verschafft der Forderung nach Selbstbestimmung auch

für die Palästinenser in Form des gemeinsamen Staates immer mehr Konsens

– selbst unter Juden und sogar in Israel. Der Aufruf Hecht-Galinskis an

die Juden in aller Welt stößt also nicht auf völlig taube Ohren: „Wenn

wir Israel nicht kritisieren, machen wir uns der israelischen Verbrechen

mitschuldig.“

 

Ilan Pappe dachte sogar laut über eine Plattform für einen gemeinsamen

demokratischen Staat, die bei Wahlen antreten könnte, nach. Er rief auch

dazu auf, die Apartheid durch den Aufbau eines gemeinsamen Alltagslebens

von Juden und Arabern auszuweichen. Ghada Karmi, eine bekannte

britisch-palästinensische Akademikerin und Autoren rief die

Palästinenser sogar dazu auf, massenhaft die israelische

Staatsbürgerschaft einzufordern. Gegen diese Aufweichungen der

Anti-Normalisierungshaltung gab es teils lautstarke Proteste,

insbesondere vom Hauptorganisator der Konferenz, Attia Rajab.

 

Leerstelle politischer Islam

 

Professor Asaad Abu Khalil, der Betreiber des querdenkerischen Blogs

Angry Arab, sollte laut Programm über den politischen Islam in Bezug auf

den palästinensischen Befreiungskampf sprechen. Allein, er beschränkte

sich auf eiskalte Andeutungen wie jene vom „arabischen Winter“, der vom

Autor widersprochen wurde: Die Volksrevolten sind der Beginn eines

langen und widersprüchlichen Prozesses, der die Dominanz des Westens

einschränkt.

 

Dabei war es bei allen bisherigen Initiativen für einen demokratischen

Staat immer wieder zu Diskussionen gekommen, wie an den politischen

Islam heranzugehen sei. Dabei war der Autor selbst, gemeinsam mit Yoav

Bar und vielen anderen wie Karmi, vehement dafür eingetreten, einen

Schritt auf die islamische Bewegung zuzugehen, sie offensiv einzuladen

und auf das ausschließende Epithet „säkular“ zu verzichten. Denn wie die

arabische Volksrevolte gezeigt hat, ist die überwiegende Mehrheit der

Muslime bis hinein in den islamistischen Bereich für Demokratie, während

Säkularismus für sie ein Feindbild bleibt. Da mag ein Widerspruch

eingeschlossen sein, denn Demokratie enthält organisch ein gewisses Maß

an Säkularität, auch wenn nicht notwendigerweise in der

französisch-antiklerikalen Form. Doch das wäre ein wichtiges

Diskussionsthema mit der islamischen Bewegung, bei der die Demokraten

die denkbar besten Karten hätten. Ohne zumindest mit einem Teil der

islamisch geprägten Volksmassen im Bündnis zu stehen, wird es weder

möglich sein in der arabischen Welt demokratischere Verhältnisse zu

erkämpfen, noch einen demokratischen Staat in Palästina zu errichten.

 

„Der Widerstand gegen den Kolonialismus wird in der Region nicht von Che

Guevara, sondern von Muslimen geführt.“ Das müsste die europäische

Palästina-Solidaritätsbewegung verstehen, meinte Pappe.

 

Nächster Schritt

 

Die 1. Stuttgarter Konferenz 2010 hatte das massive Eis gegen die Idee

des gemeinsamen demokratischen Staates gebrochen. Doch noch war das

Pflänzchen zu zart, um Wurzeln schlagen zu können. Außer den

Organisatoren und der mutigen Galionsfigur Hecht-Galinski getraute sich

bisher niemand öffentlich dafür aufzutreten, denn der Rufmord war sicher.

 

Als Hermann Dierkes, auch ein Redner, von der Linken Duisburg 2011

öffentlich für den Boykott Israels auftrat, wurde er von der gesamten

Republik einschließlich seiner eigenen Partei gesteinigt. Ihm wurde

sogar die Ehre zuteil, vom amerikanischen Wiesenthal-Center in die Top10

der gefährlichsten Antisemiten aufgenommen zu werden. Doch er widerrief

nicht und verteidigte seine antifaschistische Haltung. Je mehr mit der

antisemitischen Keule geschlagen und sie sogar zur Staatsraison erhoben

wird, desto mehr nutzt sie sich ab und verliert an Glaubwürdigkeit.

 

Die Zeit ist nun reif auch für Deutschland und den ganzen

deutschsprachigen Raum ein Personenkomitee für einen gemeinsamen

demokratischen Staat zu gründen. Ihm kommt die schwere Aufgabe zu die

antifaschistische Fahne, die nicht von den Neonazis niedergerissen,

sondern vom liberal-kapitalistischen deutschen Staat für das

neoimperiale Projekt an der Seite der USA pervertiert wurde, neu

aufzurichten. Attia Rajab vom Pako rief am Ende der erfolgreichen

Konferenz zu einem diesbezüglichen Treffen im kommenden Herbst auf.

 

Wien, Ende Mai 2013

 

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