„Deutsche Staatsraison gegen Demokratie“
Mehr als 300 Menschen fanden sich vom 10.-12. Mai im süddeutschen
Stuttgart zu einer Konferenz ein, die im Untertitel eine sehr
ambitionierte Zielsetzung proklamierte: „Für einen säkularen,
demokratischen Staat für alle seine Bürger“. In ihrer Eröffnungsrede
brachte die streitbare Tochter des verstorbenen Vorsitzenden des
Zentralrats der Juden, Evelyn Hecht-Galinski, die moralische Empörung
auf den Punkt, die eine so außergewöhnlich große Zahl an Menschen zu
mobilisieren vermochte: es muss endlich anerkannt werden, dass auch die
Palästinenser Opfer der deutschen Geschichte sind!
Entgegen der praktisch zu 100% gleichgeschalteten veröffentlichten
Meinung, will die Mehrheit der Deutschen sich nicht des Missbrauchs des
Holocaust schuldig machen, der in ihrem Namen betrieben wird. Kanzlerin
Merkel hat die unverbrüchliche Unterstützung Israels durch die BRD zur
Staatsraison erhoben – ohne Rücksicht auf Gesetz, Moral und Demokratie,
denn etwas anderes kann dieser amtliche Verweis nicht bedeuten, wie Ian
Portman vom organisierenden Stuttgarter Palästinakomitee (Pako)
ausführte. Würde man sich im Gegensatz dazu auf die so viel beschworenen
antifaschistischen Werte, auf die in den universalen Menschenrechten
kondensierten Lehren aus den Verbrechen der Nazis beziehen, müsste man
den zionistischen Kolonialismus bekämpfen, der den Palästinensern diese
Rechte systematisch verweigert. Als Ilan Pappe, der bekannte israelische
Historiker, schließlich ausrief: „Wiedergutmachung heißt heute den
Palästinensern helfen!“, wollte der Applaus nicht enden. Von einem Juden
wurde das gesagt, was die deutsche Mehrheit denkt, was aber der
Staatsraison wegen nicht ausgesprochen werden darf.
Das erklärt warum eine oppositionelle Veranstaltung (unter weitgehender
Abwesenheit der Medien) mehr Menschen anzuziehen vermag, als Volontäre
der diversen deutschen Regimekräfte zuwege bringen würden (selbst mit
der geballten Macht ihrer Medien). Daran ist der große Erfolg der 2.
Stuttgarter Konferenz zu bemessen.
Joseph Massad, ein US-Professor mit palästinensischen Wurzeln, ging in
seiner viel beachteten Rede noch weiter und schockierte das Publikum.
(Al Jazeera, für dessen Website Massad regelmäßig schreibt, nahm die
Abschrift unter Druck vom Netz, um ihn später aufgrund der Proteste
wieder online zu stellen – samt Entschuldigung.) 1 Für ihn ist der
Zionismus ein Ausdruck weißen Rassismus und durch die systematische
Kooperation mit dem Antisemitismus selbst hochgradig antisemitisch.
Massad untermauert das mit zahlreichen historischen Belegen, unter
anderen ein erhellendes Detail: Der Holocaust konnte als Legitimation
für Israel erst wirksam werden, nachdem die amerikanische
Kulturindustrie die Opfer von dunklen Ostjuden zu weißen
Mittelstandseuropäern erhoben hatte.
Denn die Auslöschung der Anderen, der Eingeborenen, seien es nun
Indianer, Aborigines, Ostjuden oder Palästinenser, reicht zu nicht mehr
als einer bedauernden Randnotiz am Weg des Fortschritts, die Vernichtung
von weißen Europäern aber ist Inbegriff des Bösen, das mit nichts
verglichen werden darf. Schafft man es sich als Abwehrkämpfer gegen
dieses überhistorisch absolut Negative darzustellen, dann ist jedes
Mittel recht.
Zwei Staaten als Behübschung des Zionismus
Mittlerweise kann niemand mehr leugnen, dass Israel keinen
palästinensischen Staat, der diesen Namen wert wäre, zulassen will und
niemals wollte. Der Hinweis auf die systematisch fortgesetzte
zionistische Landnahme reicht dazu aus. (Auf der Konferenz besorgte das
in eindrucksvoller Weise die junge Rechtsanwältin Haneen Naamnih aus
Jerusalem am Beispiel der Beduinen des Naqab/Negev.) 2Das einzige, was
Israel will, sind Bantustans, Eingeborenen-Reservate, die möglichst den
Namen Palästinenser-Staat tragen sollen. Damit kann eine Scheinparität
hergestellt werden, die die fortgesetzte zionistische Herrschaft zu
verschleiern sucht – ganz nach dem Vorbild der südafrikanischen Apartheid.
Genau dieses „Paradigma der Parität“ attackierte Ilan Pappe, denn es
verstellt die Sicht auf die strukturelle Ungleichheit, auf die Tatsache
des Gegensatzes von Kolonisten und Kolonisierten, von Unterdrückern und
Unterdrückten. Pappe wies darauf hin, dass die Zweistaatenlösung eine
rein zionistische Erfindung sei, um das koloniale Prinzip des 19.
Jahrhunderts im 21. Jahrhundert an eine Welt zu verkaufen, die nach
Demokratie verlangt und im 20. Jahrhundert bittere Erfahrungen mit dem
Nationalismus gemacht hat. Er rief dazu auf, diese Ungleichheit in der
Realität auch in der Sprache wiederzugeben.
Einig war man sich, dass einzig die Palästinenser über ihr Schicksal zu
entscheiden haben. Doch dieses Argument kann nicht gegen den
demokratischen Staat in Stellung gebracht werden, wie das oft versucht
wird. Denn dieser garantiert alle elementaren Menschenrechte
einschließlich demokratischer Selbstbestimmung und Rückkehr. Es ist die
einzige Lösung, die mit dem Kolonialismus aufräumt. Zwei Staaten indes
zwängten den Palästinensern die Anerkennung der zionistischen Landnahme
und Apartheid, sowie den Verzicht auf das Recht auf Rückkehr auf.
So sehr die Zweistaatenlösung an öffentlicher Legitimität verliert und
sich ein gemeinsamer demokratischer Staat aufdrängt sowie zunehmend und
allenthalben Anhänger findet, so darf nicht übersehen werden, dass der
globale Herrschaftsapparat geführt von Washington weiterhin geschlossen
hinter dieser Fiktion und damit hinter Israel steht. Oftmals wird der
Vergleich mit der südafrikanischen Apartheid verwendet, die durch den
Boykott gefallen ist. So richtig das ist und so sehr die
Solidaritätsbewegung als Vorbild dienen soll, so wenig darf darauf
vergessen werden, dass es ein äußeres Ereignis gab, dass es den USA
erlaubte, die weißen Rassisten als Verbündete fallen zu lassen, nämlich
der Zerfall der Sowjetunion. Pappe meinte, dass man die zionistische
Apartheid wohl ohne ein solch großes historisches Ereignis auch nicht
los werden würde – doch welches das sein werde, müsse man der
Spontaneität der Geschichte überlassen.
Kräfteverhältnisse
Bei den Debatten schwingt das oft zu vernehmende Argument mit, nach dem
ein gemeinsamer demokratischer Staat zwar vernünftig sein mag, aber
nicht realistisch wäre. Die unmittelbare und plausible Antwort, dass
zwei Staaten sich als unrealistisch erwiesen haben, lässt indes wenig
Hoffnung aufkommen.
Yoav Bar, einer der Initiatoren der Haifa-Konferenzen für einen
gemeinsamen demokratischen Staat und global einer der zentralen
Koordinatoren der Bewegung, deutete auf die Veränderung der globalen
Kräfteverhältnisse. Die USA haben wichtige Kriege verloren und die
globale Peripherie, insbesondere Asien, hat stark an Bedeutung gewonnen.
Nicht zuletzt trägt die kapitalistische Krise zur Schwächung des
westlichen Zentrums, der Hauptstütze Israels, bei.
In praktischen allen Teilen der Welt von Lateinamerika, über Afrika bis
Asien weichte die USA nach dem Niedergang der UdSSR ihre Diktaturen auf
und ließ mehr Demokratie zu, nicht immer zu ihrem Nachteil. Eine
hartnäckige Ausnahme zu diesem Trend gab es allerdings: den Nahen Osten.
Dort bestärkte man die härtesten Tyrannen – zum Schutze Israels und des
Erdöls. Doch die Region kann dauerhaft von den Veränderungen nicht
abgeschottet werden. Die Forderungen nach Demokratie und Menschenrechten
stehen nach Bar im Zentrum der arabischen Bewegungen oder – wie es Pappe
ausdrückte –, sie entsprächen dem globalen Zeitgeist. 3 Das erhöht den
Druck auf Israel und verschafft der Forderung nach Selbstbestimmung auch
für die Palästinenser in Form des gemeinsamen Staates immer mehr Konsens
– selbst unter Juden und sogar in Israel. Der Aufruf Hecht-Galinskis an
die Juden in aller Welt stößt also nicht auf völlig taube Ohren: „Wenn
wir Israel nicht kritisieren, machen wir uns der israelischen Verbrechen
mitschuldig.“
Ilan Pappe dachte sogar laut über eine Plattform für einen gemeinsamen
demokratischen Staat, die bei Wahlen antreten könnte, nach. Er rief auch
dazu auf, die Apartheid durch den Aufbau eines gemeinsamen Alltagslebens
von Juden und Arabern auszuweichen. Ghada Karmi, eine bekannte
britisch-palästinensische Akademikerin und Autoren rief die
Palästinenser sogar dazu auf, massenhaft die israelische
Staatsbürgerschaft einzufordern. Gegen diese Aufweichungen der
Anti-Normalisierungshaltung gab es teils lautstarke Proteste,
insbesondere vom Hauptorganisator der Konferenz, Attia Rajab.
Leerstelle politischer Islam
Professor Asaad Abu Khalil, der Betreiber des querdenkerischen Blogs
Angry Arab, sollte laut Programm über den politischen Islam in Bezug auf
den palästinensischen Befreiungskampf sprechen. Allein, er beschränkte
sich auf eiskalte Andeutungen wie jene vom „arabischen Winter“, der vom
Autor widersprochen wurde: Die Volksrevolten sind der Beginn eines
langen und widersprüchlichen Prozesses, der die Dominanz des Westens
einschränkt.
Dabei war es bei allen bisherigen Initiativen für einen demokratischen
Staat immer wieder zu Diskussionen gekommen, wie an den politischen
Islam heranzugehen sei. Dabei war der Autor selbst, gemeinsam mit Yoav
Bar und vielen anderen wie Karmi, vehement dafür eingetreten, einen
Schritt auf die islamische Bewegung zuzugehen, sie offensiv einzuladen
und auf das ausschließende Epithet „säkular“ zu verzichten. Denn wie die
arabische Volksrevolte gezeigt hat, ist die überwiegende Mehrheit der
Muslime bis hinein in den islamistischen Bereich für Demokratie, während
Säkularismus für sie ein Feindbild bleibt. Da mag ein Widerspruch
eingeschlossen sein, denn Demokratie enthält organisch ein gewisses Maß
an Säkularität, auch wenn nicht notwendigerweise in der
französisch-antiklerikalen Form. Doch das wäre ein wichtiges
Diskussionsthema mit der islamischen Bewegung, bei der die Demokraten
die denkbar besten Karten hätten. Ohne zumindest mit einem Teil der
islamisch geprägten Volksmassen im Bündnis zu stehen, wird es weder
möglich sein in der arabischen Welt demokratischere Verhältnisse zu
erkämpfen, noch einen demokratischen Staat in Palästina zu errichten.
„Der Widerstand gegen den Kolonialismus wird in der Region nicht von Che
Guevara, sondern von Muslimen geführt.“ Das müsste die europäische
Palästina-Solidaritätsbewegung verstehen, meinte Pappe.
Nächster Schritt
Die 1. Stuttgarter Konferenz 2010 hatte das massive Eis gegen die Idee
des gemeinsamen demokratischen Staates gebrochen. Doch noch war das
Pflänzchen zu zart, um Wurzeln schlagen zu können. Außer den
Organisatoren und der mutigen Galionsfigur Hecht-Galinski getraute sich
bisher niemand öffentlich dafür aufzutreten, denn der Rufmord war sicher.
Als Hermann Dierkes, auch ein Redner, von der Linken Duisburg 2011
öffentlich für den Boykott Israels auftrat, wurde er von der gesamten
Republik einschließlich seiner eigenen Partei gesteinigt. Ihm wurde
sogar die Ehre zuteil, vom amerikanischen Wiesenthal-Center in die Top10
der gefährlichsten Antisemiten aufgenommen zu werden. Doch er widerrief
nicht und verteidigte seine antifaschistische Haltung. Je mehr mit der
antisemitischen Keule geschlagen und sie sogar zur Staatsraison erhoben
wird, desto mehr nutzt sie sich ab und verliert an Glaubwürdigkeit.
Die Zeit ist nun reif auch für Deutschland und den ganzen
deutschsprachigen Raum ein Personenkomitee für einen gemeinsamen
demokratischen Staat zu gründen. Ihm kommt die schwere Aufgabe zu die
antifaschistische Fahne, die nicht von den Neonazis niedergerissen,
sondern vom liberal-kapitalistischen deutschen Staat für das
neoimperiale Projekt an der Seite der USA pervertiert wurde, neu
aufzurichten. Attia Rajab vom Pako rief am Ende der erfolgreichen
Konferenz zu einem diesbezüglichen Treffen im kommenden Herbst auf.
Wien, Ende Mai 2013
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Antiimperialistische Koordination
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