Hinter den sozialen Protesten in Bulgarien stehen linke Kräfte.
Im Folgenden werden zwei Dokumente der Partei „Bulgarische Linke“ veröffentlicht, die wesentlich hinter den derzeit vor sich gehenden sozialen Protesten in Bulgarien gegen die bisherige Regierung der rechten Partei GERB (Abkürzung für „Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens“) unter dem Premierminister Boyko Borisov steht.
Das erste Dokument „Ändern wir das System“ vom 20. Februar fordert die Ablöse des bislang 23 Jahre dauernden Systems des Übergangs vom Realsozialismus zu einer radikalen Marktwirtschaft an der europäischen Peripherie. Nachdem am 18.2. der Finanzminister Simeon Denchev Dyankov zurückgetreten ist, ist auch der in dem Dokument erwartete Rücktritt von Borisovs Regierung wenige Stunden danach eingetreten.
Das Dokument zeigt weiters, dass hinter den Protesten gegen die überhöhten Strompreise eine tiefere Agenda liegt. Sie sind geleitet von einer massiven Kritik am Ausverkauf von commons an ausländische Konzerne: Nicht allein der Strommarkt, wo sich ausländische Konzerne wie die österreichische EVN Lizenzen erworben haben, sondern auch der Ausverkauf von staatlichem Grund und Boden über Swapgeschäfte werden thematisiert (womit übrigens die vom Finanzmarktkapitalismus angetriebenen Privatisierungsideen ihre originelle bulgarische Variante gefunden haben). Zur selben Zeit ist der durchschnittliche Lebensstandard von Werktätigen und Pensionisten der niederste innerhalb der EU.
Bei der Warnung vor neuen Rettern und Heilsbringern wird die Nachfolgepartei der einst allmächtigen Bulgarischen Kommunistischen Partei, die Bulgarische Sozialistische Partei, angesprochen, die sich am rechten Flügel der Sozialistischen Internationale befindet und seit 1996 der über Südosteuropa verhängten neoliberalen Agenda ohne Widerspruch folgt. Als weitere problematische Lichtgestalt wird die bürgerliche Politikerin Meglena Kunewa angesprochen, ehemalige EU-Kommisarin für Lebensmittelsicherheit und unterlegene Kandidaten bei den letzten bulgarischen Wahlen zum Staatspräsidenten und Begründerin der Partei „Bewegung Bulgarien der Bürger“.
Das zweite Dokument stammt aus dem Vorjahr und offenbart das Selbstverständnis der Partei „Bulgarische Linke“ einerseits als Teil der Europäischen Linkspartei, aber andererseits auch als Ausdruck eines authentischen und – angesichts der hiesigen Unkenntnis der Geschichte linker Bewegungen in Bulgarien – nicht immer sofort erschließbaren Profils.
(Die Einleitung und die folgenden Übersetzungen aus dem Bulgarischen stammen von Christian Promitzer)
Erstes Dokument:
Ändern wir das System! (20. Februar 2013): Politische Deklaration der politischen Partei „Bulgarische Linke“
Das Land ist in einer grundsätzlich neuen politischen Situation:
- Die Menschen haben sich zum Aufstand gegen die Monopole erhoben;
- Die Menschen haben sich zum Aufstand gegen die GERB-Regierung erhoben;
- Die Menschen verstehen immer mehr, dass das Problem nicht an einer Partei oder an einem Menschen liegt, sondern dass das Problem am System liegt.
- Heute lautet die Devise: Nein zum Kapitalismus. Nein zu jenen, die das bulgarische Volk ausgeplündert haben. Nein zu den Parteien des Übergangs;
- Heute verstehen jene, die Bulgarien ausgeraubt haben und die das Land in Wirklichkeit 23 Jahre regiert haben, dass die Auswirkungen der Unzufriedenheit im Volk unmittelbar auch ihre eigenen Interessen tangieren. Um sich zu retten, werden sie von sich aus die Regierung von Boyko Borisov stürzen. Der Rücktritt des verhassten Dyankov ist nur der Beginn ihrer Rettungsaktion. Und wenn wir sie lassen, werden sie sich einen neuen Helden und Retter finden.
Nach Ausrufung einer Linkswende erschien die Bulgarische Sozialistische Partei bereits auf hohem Ross und im Hochzeitsgewand; aber sie hat vergessen, dass keine andere Partei sonst eine rechtere Politik gemacht hat; vergessen auch, dass sie als erste in Bulgarien Gebühren für höhere Bildung eingeführt hat; sie hat vergessen, dass vom Versprechen, das „Land jenen“ zu geben „die es bearbeiten“, nichts übriggeblieben ist; sie hat vergessen, dass das Gesetz über die umfassende Privatisierung, das mit einer der größten Ausplünderungsaktionen in Bulgarien verbunden war, ihr eigenes war; sie hat die flat tax vergessen und ganz und gar die Swapgeschäfte mit Grund und Boden. Anstatt sich dafür zu entschuldigen, vermeldet ihr Vorsitzender „Wir werden die Macht übernehmen.“
Die zweite Retterin, Frau Kuneva, vergisst, dass es ihre hauptsächliche Aktivität während ihrer Zeit als Mitglied der Europäischen Kommission, während der sie die Konsumenten hätte schützen müssen, der Schutz des business vor den Konsumenten war.
Wir dürfen nicht die Möglichkeit ausschließen, dass ein neuer Held und Retter in Erscheinung tritt, wenn wir wieder Glauben in einen solchen fassen sollten, wenn wir wiederum nicht verstehen sollten, dass uns in Wirklichkeit ein und dieselben Menschen regieren, denn die auf der Bühne sind nur Marionetten. Dann werden wir selbst daran schuld sein.
Wir von der Partei „Bulgarische Linke“ rufen euch daher zu: Lasst uns die Zukunft ändern! Verjagen wir die Parteien des Übergangs! Verjagen wir die falschen Propheten! Nein zur falschen repräsentativen Demokratie, Ja zu (direkten) Volksdemokratie!
Das Linksprojekt ist die Zukunft von Bulgarien, Europas und der Welt!
Der politische Rat der Partei „Bulgarische Linke“
———————————————————————
Zweites Dokument:
ÜBER DIE PARTEI
Die Partei „Bulgarische Linke“ wurde am 4. April 2009 als Reaktion auf die sich unaufhörlich beschleunigende Bewegung der Bulgarischen Sozialistischen Partei nach rechts und aufgrund der Vernachlässigung des sozialen Themas seitens ihrer zentralen und örtlichen Führungen gegründet. In dieser Situation verblieben links orientierte BulgarInnen ohne eine politische Repräsentanz, doch der Kampf für einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz musste von jemandem weitergeführt werden.
Die zweite Ursache für das Entstehen der Partei war der Wunsch ihrer Gründer nach einer Sammlung der versprengten Kräfte einer authentischen linken politischen Orientierung.
Ein nicht weniger wichtiger Grund war das im Jahr 2004 erfolgte Auftreten der Europäischen Linkspartei, die sich von der Europäischen Sozialistischen Partei abspaltete.
An der Spitze der Partei standen Iliya Bozhinov, Petko Todor und Ivan Genov, als Zentralsekretär wurde Boyan Kirov gewählt. Nach dem vorzeitigem Tod von Iliya Bozhinov wählte der Erste Ordentliche Kongress Ivan Genov und Margarita Mileva zu Vorsitzenden und Hristofor Dochev und Irina Aleksova zu ihren StellvertreterInnen.
Im Moment zählt die Partei etwa 6000 Mitglieder und ist die größte Partei im linken politischen Spektrum.
50% davon sind ehemalige Mitglieder der BSP; 35% waren vorher niemals Miglied irgend einer Partei; 15% waren Mitglieder anderer Parteien..
30% sind jünger als 35 Jahre; 38% sind zwischen 35 und 65 Jahre alt; 32% sind über 65 Jahre alt.
12% sind Personen mit wissenschaftlicher Ausbildung bzw. stehen in akademischen Berufen (Professoren, Dozenten, Doktoren; 40 % haben eine höhere Bildung; 40% haben eine mittlere Fachausbildung; 8% haben Pflichtschulabschluss.
47% leben in regionalen urbanen Zentren; 45% in kleineren Ansiedlungen; 8% in Sofia.
Im Jahr 2010 г. wurde die „Bulgarische Linke“ ordentliches Mitglied der Europäischen Linkspartei, wodurch all ihre Mitglieder auch Mitglieder der ELP sind. Im Jahr 2011 wurde Margarita Mileva zum Mitglied des Exekutivrates der ELP gewählt.
Auf Initiative der „Bulgarischen Linkspartei“ wurden im Jahr 2011 die Vereinigung LVK (Linke Vereinigte Kräfte) gegründet, in der 10 politische Parteien, 14 Bürgerinitiativen und eine Vielzahl von Personen mit Schwerpunkt auf dem sozialen und politischen Leben des Landes Platz finden.
Das endgültige Ziel der Partei „Bulgarische Linke“ ist die Ablöse des kapitalistischen Systems durch einen neuen, demokratischen Sozialismus – ohne den Zusatz irgendeiner Diktatur.
- Wir wollen, dass das Staatseigentum die Regeln der sozialen Beziehungen dominiert und bestimmt, während das korporative (private) Eigentum Nutzen für die Gesellschaft erbringen soll. Staatseigentum über die für das Land strategische Produktion!
- Wir sind gegen ausländische und private Monopole. Das Wasser, die Energiereserven, die Wälder – in die Hände des Staates!
- Wir sind für eine Planwirtschaft, in der der Markt nur eines der Elemente darstellt.
- Wir fordern staatliche und gesellschaftliche Kontrolle der Banken. Wir fordern eine bulgarische Volksbank!
- Wir fordern ein solidarisches Steuersystem, in dem die Priorität auf den Interessen der Mehrheit der Menschen liegt. Die Reichen müssen für ihre Reichtümer zahlen!
- Wir fordern die Liquidierung der indirekten Steuern auf Waren unmittelbaren Bedarfs, auf Arzneimittel eingeschlossen.
- Wir fordern eine allgemeine kostenlose Gesundheitsversorgung aus dem Budget.
- Wir fordern allgemeine kostenlose (Aus-) Bildung aus dem Budget.
- Wir fordern eine tatsächliche Verpflichtung des Staates gegenüber Wissenschaft, Kultur und den Künsten.
- Wir fordern eine würdige Entlohnung von Arbeit und einen ruhigen Lebensabend für die PensionistInnen!
- Wir fordern eine neue Verfassung, die garantieren soll, dass Bulgarien ein Sozialstaat ist; dass jede Form des Eigentums – sei sie staatlich oder privat – für das Wohl der Gesellschaft arbeitet! Wir fordern ein neues Wahlrecht!
- Gemeinsam mit der ELP kämpft die „Bulgarische Linke“ für eine andere Europäische Union – eine soziale, solidarische und prosperierende Union der Völker und nicht der Kapitalien. Wir kämpfen für die Abschaffung des Militärbündnisses NATO oder wenigstens für dessen Umwandlung in eine politische. Wir sind für die friedliche Lösung von Konflikten und die Liquidierung des Neokolonialismus.
Wir sind die radikale Linke Bulgariens!
Juli 2012.